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krankungen. Die Betreuung dieser Menschen mit

einem angepassten Therapieangebot, sei es ambu-

lant (häufig in Allgemein- oder Psychiatriepraxen),

teilstationär oder stationär, ist eine grosse gesell-

schaftliche Herausforderung. Sie erfordert auch

gelegentlich die Toleranz der lokalen Wohnbe-

völkerung. Während man früher psychisch kranke

Menschen oft in Kliniken von der übrigen Bevölke-

rung fern hielt oder in Grossfamilien bestmöglich

zu integrieren versuchte, wird heute berechtigter-

weise vermehrt auf die Unterstützung beziehungs-

weise Hilfe zur Selbsthilfe und Autonomie gesetzt.

«So gut habe ich es im Leben

schon lange nicht mehr gehabt!»

Psychiatrische Zwangsmassnahmen inklusive Be-

treuung auf geschlossenen Stationen versucht man

auf ein Minimum zu beschränken. Dank medika-

mentösen und psychotherapeutischen Mitteln, so-

wie sozialpsychiatrischen Institutionen ist dies zu

Gunsten der Betroffenen möglich geworden. Die

Fortschritte haben aber auch ihren Preis. So ist die

Betreuung von Patientinnen und Patienten durch

die Pflegenden und Ärzte in diesem Umfeld nicht

immer einfach, ja gelegentlich eine aufreibende

Herausforderung.

Selbständigkeit versus Fürsorgepflicht –

eine stetige Gratwanderung

Gilt es doch, die berechtigten Autonomiebedürf-

nisse der Betroffenen gegenüber der Fürsorge-

pflicht der Betreuenden immer wieder neu und

individuell abzuwägen und festzulegen. Die be-

rechtigten Patientenbedürfnisse und Rechte, über

welche unter anderem professionelle Gremien wie

die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB

wachen, stehen manchmal in einem Widerspruch

zu Betreuungsgrundsätzen. Können beispielswei-

se Betreuende nicht einschreiten, wenn Patienten

sich selber schädigen, drohen ernsthafte medizini-

sche Folgen.

«Ein Menschenbild, das auf Ach-

tung und Respekt basiert, erfordert eine

stetige Verhandlungsbereitschaft über

die

letzten

Freiheiten.»

Zwei kleine Anschauungsbeispiele

Beispiel 1

: Frau H. kauft 27 Schokoladen, dabei ist

sie bereits übergewichtig und hat einen begin-

nenden Diabetes mellitus. Gerne würden wir ihr

das Vergnügen von ungebremstem Kakaokon-

sum gönnen. Was ist wichtiger; die Autonomie bei

fehlender Krankheitseinsicht oder die möglichen

Konsequenzen mit Entwicklung eines Diabetes mit

seinen möglichen Spätschäden?

Beispiel 2:

J. M., eine 69-jährige Frau im Rollstuhl

raucht praktisch eine Zigarette nach der anderen

obschon sie an einer schweren Lungenkrankheit

leidet und ständig ein transportables Sauerstoff-

gerät mit sich herumtragen muss.

Fazit:

Trotz endlosen Ermahnungen in beiden Fäl-

len, die keine anhaltenden Früchte trugen, gibt

es bis heute keine dauerhafte Lösung. Bei beiden

Patienten handelt es sich um chronisch psychisch

kranke Menschen, die nur mit Einschränkung ein-

sichts- und handlungsfähig sind. Raubt man ih-

nen diese «letzten» Freiheiten zu Gunsten eines

möglichen medizinischen Nutzens oder gilt es,

einen Kompromiss täglich neu zu suchen? Bei ei-

nem Menschenbild, das auf Achtung und Respekt

basiert, bedeutet dies eine stetige Verhandlungs-

bereitschaft. Das tägliche Ringen mit diesen Un-

vereinbarkeiten – auch mit dem unschönen Wort

«Beziehungsarbeit» umschrieben – ist und bleibt

eine Herausforderung für beide Seiten.

Die kürzliche Begegnung mit einem 43-jährigen

jungen Mann, der an einer chronischen und invali-

disierenden psychiatrischen Erkrankung leidet, die

bereits in seiner Bürolehre angefangen hat und für

ihn zwischen 1994 und 2000 ungefähr sechs statio-

näre Behandlungen in verschiedenen psychiatri-

schen Kliniken notwendig machten, war für mich

ein Lichtblick. Der bis anhin sehr zurückgezogen

lebende Mann, der Kontakte wegen seiner starken

Ängste immer vermied, freut sich heute über die

Besuche von Mitpatienten aus anderen Abteilun-

gen, wo er früher wohnte. Er unternimmt wieder

begleitete Spaziergänge und geht einer regelmäs-

sigen Tagesstruktur, unter anderem mit Arbeiten

im Atelier, nach. Zum Abschied, nach der Visite,

meinte er: «So gut habe ich es im Leben schon

lange nicht mehr gehabt!».

Dr. med. Jürg Skalsky, leitender Arzt Somatik

SONNHALDE, Grüningen ZH

Fähigkeitsausweis für psychosomatische

und psychosoziale Medizin FAPPM

Psychisch leidende Menschen bedürfen eines angepassten, perso-

nenbezogenen Therapieangebotes

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